Warum kommt der Mensch so schlecht mit dem Fortschritt klar?

Tree of Knowledge

UPDATE: Vaugh­an Bell beschreibt in seinem lesenswerten Artikel in Slate, welche Prob­leme die Men­schen ins­beson­dere mit Inno­va­tio­nen in Medi­en haben.

Als Adam und Eva vom Baum der Erken­nt­nis aßen, öffneten sie damit die Büchse der Pan­do­ra und macht­en die Men­schheit anfäl­lig gegenüber dem Fortschritt. Spätestens seit diesem weg­weisenden Akt sind wir Men­schen in schön­er Regelmäßigkeit davon überzeugt, dass früher alles bess­er war, die nachk­om­menden Gen­er­a­tio­nen nicht mehr das leis­ten, wozu wir imstande sind, und dass neuere Entwick­lun­gen — seit dem 19. Jahrhun­dert meist in Form von Tech­nolo­gie daherk­om­mend — unter dem Strich mehr Schaden als Nutzen stiften.

Was hat uns der Fortschritt denn schon gebracht? Außer höher­er Lebenser­wartung, größerem Wohl­stand und besser­er Bildung?

In der neueren Wis­senschaft gibt es dur­chaus viele Beispiele für die zwei­seit­i­gen Wirkun­gen des Fortschritts: aus der Kern­forschung ent­standen die Atom­waf­fen, die Biotech­nolo­gie brachte biol­o­gis­che Waf­fen her­vor. Selb­st das Inter­net hat neben Wis­sen und Kom­mu­nika­tion auch die Pornogra­phie und die Überwachung gebracht. Der Punkt ist: die Wis­senschaften — und damit der Fortschritt — müssen regle­men­tiert wer­den. Es müssen Rah­menbe­din­gun­gen geschaf­fen wer­den, in denen die pos­i­tiv­en Auswirkun­gen des Fortschritts die neg­a­tiv­en übertr­e­f­fen können.

Wofür im Großen die Regierun­gen zuständig sind, muss im Kleinen der Einzelne, der Men­sch regeln. Bezüglich Inter­net und Telekom­mu­nika­tion hat der Geset­zge­ber — zumin­d­est im Falle Deutsch­lands — Regeln geschaf­fen, die im Best­fall diskus­sion­swürdig zu nen­nen sind: die Nutzung ist grund­sät­zlich Pri­vat­sache, jedoch gibt es soviele Aus­nah­men, in denen aus einer Pri­vat­sache eine überwachte Angele­gen­heit wird, dass man von wirk­lich­er Pri­vat­sphäre nicht sprechen möchte. Im Jan­u­ar 2010 kündigt beispiel­sweise die Deutsche Bun­desregierung an, eine Enquete-Kommission ein­richt­en zu wollen, die die Auswirkun­gen des Inter­net auf den Men­schen unter­sucht. Das Inter­net, wie es der typ­is­che Nutzer kennt, ist zu diesem Zeit­punkt bere­its über 20 Jahre alt. Wir sehen: Die Regeln fol­gen der Prax­is in einem respek­tvollen Abstand. 

Und der Einzelne — wie kom­men wir mit dem Fortschritt klar? Zum Jahreswech­sel 2010 scheint ins­beson­dere bei in den Medi­en täti­gen Men­schen die Wahrnehmung zu herrschen, der Fortschritt in Form des Inter­net und der mobilen Kom­mu­nika­tion über­roll­ten uns bzw. hät­ten dies längst getan und wir wür­den mit­geschleift. Aus­gelöst durch den Erfolg von Social Net­works wie Face­book und mobilen Endgeräten wie den Smart­phones iPhone und Black­ber­ry, wer­den der Ver­lust von Pri­vat­sphäre, Aufmerk­samkeit, Freizeit und Selb­st­bes­tim­mung durch User Gen­er­at­ed Con­tent, Chats, Real­time Suche und Livestreams heraufbeschworen.

In seinem Buch Pay­back berichtet FAZ-Mitherausgeber Frank Schirrma­ch­er von seinen Äng­sten vor dem Ver­lust der Selb­st­bes­timmtheit und warnt darauf­fol­gend vor dem Kampf Men­sch vs Mas­chine, Autorin Kathrin Pas­sig mahnt in der TAZ an, dass “es eine Zeit vor Face­book nicht mehr geben” werde und Face­book Grün­der Mark Zucker­berg selb­st sieht gar einen Par­a­dig­men­wech­sel “weg von der Pri­vat­sphäre” stat­tfind­en, was einer Öffentlichkeit des Men­schen gleichkäme.

Ich glaube, dass diese Vorstel­lun­gen und Befürch­tun­gen in dieser Dimen­sion und Inten­sität nicht ein­tr­e­f­fen wer­den. Sie sind über­trieben, stark ver­all­ge­mein­ert und nicht repräsen­ta­tiv. Wie in jeder Epoche neigen wir derzeit beim Thema Inter­net und mobil­er Kom­mu­nika­tion dazu, Prob­leme zu sehen, wo vielmehr Chan­cen sind. Bish­er hat sich der Men­sch noch an jede Tech­nolo­gie angepasst — warum sollte sich das ger­ade in unser­er Gen­er­a­tion ändern? 

Grund­sät­zlich gilt: je mehr Frei­heit­en der Men­sch hat — und nie waren wir so frei in unseren Entschei­dun­gen wie heute — desto schw­er­er fällt ihm die Auswahl. Das bedeutet jedoch, dass er die für ihn beste Auswahl tre­f­fen kann. Er muss es eben ler­nen. Und das ist wom­öglich schwierig und anstren­gend. Aber es beste­ht eine begrün­dete Hoff­nung, dass auch die uns nach­fol­gen­den Men­schen mit dem Inter­net und den Mobil­tele­fo­nen und all seinen Nach­fol­gern gut und zu ihrem Nutzen umge­hen kön­nen. Und Ansätze zu einem pos­i­tiv­en Umgang mit der ras­an­ten Kom­mu­nika­tion gibt es auch für die Älteren unter uns. 

Abbil­dung: Tree of Knowl­edge, Alis­tair Smyth

One Reply to “Warum kommt der Mensch so schlecht mit dem Fortschritt klar?”

  1. Flug USA says:

    Die Regierun­gen haben auf das Inter­net defin­i­tiv zu spät und nicht im angemesse­nen Maß reagiert. Das Inter­net ist weit­er­hin in vie­len Fällen eine rechtliche Grau­zone, was von eini­gen Unternehmen/Privatleuten auch aus­genutzt wird. Wie auch im “nor­malen” Leben gibt es dann die naiv­en Men­schen, die sich dann aus­nehmen lassen oder ähnliches.
    Im Moment ist es für viele noch aufre­gend sich auf Face­book oder Twit­ter ins Ram­p­en­licht zu stellen. Aber die jeni­gen unter uns, die z.B. schon ihren Job dadurch ver­loren haben, mussten die harten Kon­se­quen­zen daraus bere­its ziehen.
    Ich denke, mit der Zeit wird das Bewust­sein für die Gefahren im Inter­net wach­sen und unsere Gen­er­a­tion wird sich, wie andere vor uns auch, an die neue Tech­nolo­gie gewöh­nen und ler­nen mit ihr umzugehen.

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