Dem Gedanken von Lévy-Strauss, der in unterschiedlichen Schattierungen (beispielsweise hier oder hier) aufgegriffen und diskutiert wird, wird seit einiger Zeit in der FAZ-Serie Digitales Denken Raum gegeben — heute mit einem Beitrag des Journalisten Stephen Baker. Er fragt: “Was sollten wir in unseren Köpfen [von all dem Wissen, was unsere Gehirne und Maschinen wie das Internet anhäufen] behalten?”
Benedikt Köhler fackelt nicht lange und nimmt Bakers Fragen zum Anlass, Hinweise auf mögliche Antworten zu geben:
Ein Anhaltspunkt liefert aber der Flussersche Begriff des Automaten. Wir wissen, dass Medien nichts anderes sind als Verlängerungen menschlicher Organe – in der Regel Sinnesorgane. Werkzeuge also, die Menschen bedienen können, um z.B. weiter, lauter oder schneller kommunizieren zu können. Automaten sind etwas anderes. Automaten sind Wechselbeziehungen zwischen Menschen und Vorrichtungen. Die Vorrichtung ist (wie beim Werkzeug) eine Funktion des Menschen. Aber hier sind die Menschen gleichzeitig auch Funktionen der Vorrichtung.
Köhler verlängert seine Argumentationslinie zu dem von ihm mitentwickelten Konzept der Slow Media:
Damit ist mir auch etwas klarer geworden, wass wir mit unserem Slow-Media-Gedanken eigentlich im Sinn haben: Einen Ausbruch aus dieser Matrix. Das Sammeln von Medien, in denen wir uns als Persönlichkeiten wiederfinden und nicht als Automaten.
Anhand eines persönlichen Beispiels möchte ich eine weitere, pragmatische Handreichung anbieten: was also soll der Mensch sich behalten von all dem — und was soll er als wichtig abspeichern? Die Vorbereitung zu meinem BWL-Examen an der Uni Bayreuth bestand — zumindest im Fach Marketing — größtenteils aus Auswendiglernen des Vorlesungsmaterials, der Bücher des Profs sowie der vermeintlich wichtigen passenden Lektüre. Damals — 1993 — war das Internet noch nicht so gegenwärtig wie heute — niemand meines Examensjahrgangs wusste, was ein Browser ist (der wurde in Deutschland als Mosaic/Netscape erst 1994 bekannt). Also war das, was wir auswendig lernen “konnten”, viel “weniger”, als das, was heutige Studenten mit einer einzigen Google Suche in weniger als einer Sekunde finden.
Was habe ich davon behalten? Ohne Prof. Böhler oder der Uni Bayreuth Unrecht tun zu wollen: fast nichts. Das heisst: Fakten habe ich nicht behalten. Wohl aber meine ich gelernt zu haben, was Marketing ist bzw. wie Marketing verstanden werden kann. Konzepte und Gedankenkonstrukte, wie “Weak Signals” oder “Stuck in the Middle”, sind Werkzeuge, die damals wie heute im Marketing Anwendung finden können — und interessanterweise erinnere ich mich genau an einige Details der jeweiligen Vorlesungen.
Was bedeutet dies? Ich glaube, dass der Mensch so konstruiert ist, dass er sich hervorragend auf Veränderungen (z.B. technischer Fortschritt) einstellt, Anpassungsmaßnahmen vornimmt und auf Basis der jeweils neuen Situation gut weiterleben kann. Von dem, was er lernt, nimmt er abhängig von seiner geistigen Prädisposition ‘auf natürliche Art und Weise’ das mit, was für ihn und seine Anpassungsnotwendigkeiten unentbehrlich ist. Anders formuliert: Technischer Fortschritt, Wissensanballung, Internet, Vernetzung, Realtime-Kommunikation — mit all diesen Veränderungen wird der Mensch (unterschiedlich gut) fertig und es besteht zu keiner Zeit Anlass zur Sorge.
Gar der Gedanke, dass beispielsweise die neue ‘App-Economy’ dazu führen würde, dass der Internetnutzer nur noch das wahrnimmt, was ihm ein Gatekeeper (z.B. der Apple Appstore) anbietet, und alles andere ignoriert bzw. nicht mitbekommt, halte ich für übertrieben: man vertraue dem Menschen etwas mehr — er/sie wird die Gatekeeper durchschauen und bei allzu engem Angebot andere Angebote suchen oder schaffen. Vor gar nicht allzulanger Zeit musste AOL diese Erfahrung machen, als dem Intrernetnutzer das eingeschränkte AOL-Angebot nicht mehr ausreichte, er AOL den Rücken kehrte und dadurch die größte Internet-Transaktion der Geschichte rückgängig gemacht werden musste, nachdem Milliarden Börsenwert vernichtet worden waren.
Sapere aude!